Schmerz ist wichtig: wie wir ihm ausweichen, wie wir ihm erliegen, wie wir mit ihm umgehen, wie wir ihn transzendieren.«
Audre Lorde
IN DER NACHT VOR MEINER ENTZIEHUNGSKUR verfiel ich in kindische Taktiken. Auf dem Boden liegend heulte ich wie eine Figur in einer griechischen Tragödie und flehte meine Freundin an, bleiben zu dürfen. Bleiben konnte ich aber nicht. Ich hatte sie bestohlen, belogen, hatte ein Dutzend Rückfälle gehabt und mein Leben war, offengestanden, in Gefahr. Entzug oder auf die Straße: Das war ihr hartes Liebes-Ultimatum. Doch ich hatte schreckliche Angst vor dem Schritt ins Ungewisse, den ich nun tat. Ich hatte schreckliche Angst zu scheitern. Kokain und Heroin waren meine ganze Welt geworden, eine anheimelnde Hölle, und ich war sicher, dass ich nicht das Zeug dazu hatte, aus dem Loch herauszuklettern, das ich mir selbst gegraben hatte. Sicher war ich mir aber auch, dass ich es zumindest versuchen musste.
Am nächsten Tag ging ich in die Entzugsklinik und setzte mich sofort neben die Eingangstür in der Hoffnung, dass mich niemand bemerkte. Ein Mann kam auf mich zu und lächelte: »Keine Sorge, Kleiner. Bald geht’s dir wieder gut.« Später erfuhr ich von der früheren Laufbahn dieses Mannes – mit vorgehaltener Pistole hatte er Menschen in Hotelaufzügen ausgeraubt. Wichtiger noch: Ich lernte den anständigen Menschen kennen, der sich hinter all dem verbarg. Er hatte einfach eine tiefere Verzweiflung durchlebt als ich, weil eben sein Trauma so schlimm war. Ähnlich verhielt es sich mit allen dort drinnen: Ob Sexarbeiter*innen, Zuhälter, Diebe, Gangmitglieder, Speed-Junkies, Nadel-Junkies, Crack-Raucher*innen oder Trinker*innen, wir alle waren ganz und gar menschlich, waren vom Leben durch die Mangel gedreht und auf dieser Seite der Dinge wieder ausgespuckt worden. Sucht erwächst aus Trauma und Tragödie. Jedes Mal. Ich lernte die Menschlichkeit, die ich in jedem und jeder von uns sah, kennen und lieben. Ich wurde von ihr verwandelt. Daraufhin nutzte ich die Gelegenheit, mich auf eine intensive Therapie einzulassen, tief in die Meditation zu stürzen und die Heilungsarbeit zu leisten.
Es schien unmöglich, mein Leben in Ordnung zu bringen. Ich war mir sicher, dass ich nicht das Zeug dazu hatte, und am Anfang war alles qualvoll. Doch am Ende spielte nichts davon mehr eine Rolle. Ich fand einen Weg, dabeizubleiben.
Doch das Leben begnügte sich nicht damit, mir diese Lektion zu erteilen, die es uns allen mit aller Inbrunst beibringen will. Nach meiner Entziehungskur spürte ich in mir eine tiefe Berufung, Psychotherapeut, Meditationslehrer und Yogalehrer zu werden, um einen Weg zu finden, all das, was ich erhalten hatte, zu integrieren und der Welt zurückzugeben. Das bedeutete, im Alter von dreißig Jahren mit dem Community College zu beginnen, ohne Geld, ohne Hilfe von der Familie, zu hundert Prozent mit Studienkrediten, während ich immer noch sehr stark mit Depressionen und traumabedingten dysfunktionalen Verhaltensmustern zu tun hatte. Ein Teil von mir wusste, dass ich es durchziehen konnte. Dieser Teil von mir sagte mir, dass wir es einfach nacheinander, eins nach dem anderen, angehen mussten, ein Tag nach dem anderen. Genau wie beim Entzug würde es zwar schwer werden und uns wie eine Ewigkeit vorkommen, aber wir würden es durchstehen und am Ende Nutzen daraus ziehen. Andere Teile von mir schrien laut, das sei ein unmögliches Unterfangen – zu groß, zu waghalsig, zu viele Hindernisse. Ein Teil von mir fügte immer wieder gern hinzu, dass ich ein Junkie und Versager sei, der noch nie etwas zustande gebracht hätte. Doch dann gelangte ich wieder zurück zu dem Teil von mir, der sagte: »Tu einfach das, was als Nächstes drankommt. Alles, was du jetzt tun musst, ist das Nächste, das direkt vor dir liegt.« Das war zwar die leisere der beiden Stimmen und ich musste oft nach ihr suchen, aber ich lernte, dass ich mich auf diese Stimme verlassen konnte. Wie merkwürdig, dass ausgerechnet die liebevollere Stimme mir half, in Schwierigkeiten durchzuhalten. Statt der Härte der Selbstaggression, des Ehrgeizes und des »Durchpowerns« – die Stimme, die mich immer direkt zur Nadel zurückgeführt hatte – suggerierte mir die liebevolle Stimme, dass ich wirklich das tun konnte, was ich wollte, und dass der Weg dorthin in einem Schritt nach dem anderen bestand.
Das vielleicht Wertvollste, was ich in der Schule lernte, ergab sich aus der Art und Weise, wie sich diese Themen in jeder einzelnen Abschlussprüfungsphase wiederholten. Sechs Jahre lang saß ich zweimal jährlich mit einem Haufen Arbeit da, der sich unüberwindbar anfühlte. Es schien, als müsse ich buchstäblich eine Methode finden, die Raum-Zeit zu krümmen, um alles zu schaffen. Ich schaute mir meine Mitschüler an, die Geld von ihren Eltern bekamen, jünger und resilienter waren als ich, denen nicht ein Leben voller Verletzungen und Sucht in den Knochen steckte – sie alle schienen wie geschaffen für diese Aufgabe zu sein, nur ich nicht. Ich bestimmt nicht. Doch dann machte sich wieder die andere Stimme in mir bemerkbar: »Du brauchst nichts weiter zu tun, als den nächsten Satz zu schreiben. Lies die nächste Seite. Atme dich noch eine weitere Stunde durch. Rauch eine verdammte Zigarette, wenn du musst. Aber mach einfach weiter. Es wird aufhören. Und wenn es aufhört, hast du dir selbst etwas bewiesen.«
Der Kern dieser Geschichten betrifft nicht allein mich. Jedes Mal, wenn das Leben uns in eine Ecke drängt und wir uns dafür entscheiden, voranzuschreiten, statt zurückzuschrecken, treffen wir auf Stimmen, die schreien: »Nie im Leben kann ich das! Ich habe nicht das Zeug dazu. Das ist für andere, die es besser haben. Es fühlt sich an wie ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist zu schmerzlich, erfordert zu viele Opfer. Ich werde es vermasseln und bin nicht sicher, ob ich das ertragen kann.« Aber wir alle hören gleichzeitig ein Flüstern, eine leisere, ruhigere Stimme, die so etwas sagt wie: »Oh, aber du kannst das. Du musst es nur irgendwie schaffen, den nächsten Schritt zu tun. Und dann den danach. Es ist jetzt einfach an der Zeit, dir etwas einfallen zu lassen. Es ist einfach an der Zeit, resilient zu sein. Das ist alles.«
Die Stimme, die wir beherzigen, ist auch die Stimme, die stärker werden wird.
ETWAS, DAS DEM EIGENEN EMPFINDEN nach absolut unmöglich erscheint, ist oft durchaus möglich. Es beinhaltet einfach die Möglichkeit zu scheitern und erfordert die nötige Hartnäckigkeit, um das Scheitern zu überwinden. Die Vorstellung des Scheiterns ist für viele von uns quälend. Scheitern fühlt sich wie eine überzeugende Bestätigung dafür an, dass wir nichtsnutzige Ausgestoßene sind, die es nicht besser verdienen. Solche Stimmen sind Teile von uns, die entweder wollen, dass wir uns noch mehr verbessern oder die in Anbetracht der Verletzlichkeit, die mit dem Streben nach dem bestmöglichen Leben einhergeht, so in Panik geraten, dass sie uns sogar angreifen, nur um uns von derartigen Versuchen abzuhalten. Eine Möglichkeit besteht darin, sich diesen Stimmen einfach zuzuwenden und zu sagen: »Vielen Dank, dass ihr euch um mich gekümmert habt.« Denn trotz des äußeren Anscheins versuchen die Stimmen nämlich genau das zu tun.
Beachte, dass ich hier ein anderes Modell des Durchhaltevermögens anspreche. Nicht das selbstverneinende, hypermaskuline »Beiß die Zähne zusammen«-Durchhaltevermögen, das in unserer Gesellschaft so oft gepredigt wird. Ein solches Durchhaltevermögen läuft oft darauf hinaus, dass wir unsere Gefühle beiseiteschieben, was entmenschlichend ist und uns als Objekt instrumentalisiert. Ich spreche von einem liebevollen Durchhaltevermögen, das in vielerlei Hinsicht die stärkere, mutigere Wahl ist. Es ist die Entscheidung, unsere Ängste und »Ausraster« zuzulassen, damit wir einen Umgang damit finden können. In Situationen, in denen wir die Grenze dessen überschreiten, was uns nach unserem Empfinden möglich ist, können wir diesen Teilen etwas unglaublich Wertvolles zeigen: dass es in Ordnung ist, Angst zu haben, dass es in Ordnung ist, zu scheitern, dass es in Ordnung ist, wenn es uns verletzt, dass es in Ordnung ist, wenn wir uns von all dem gedemütigt fühlen. Es ist in Ordnung, weil wir wieder auf die Beine kommen, wir sind resilient. Wir sind für so etwas gemacht.
Sehr oft ist das Gefühl des Versagens eigentlich eine Empfindung zu wachsen. Dies zu sehen, ist eine Einladung, unsere Beziehung zum Scheitern neu zu interpretieren. Scheitern anzuvisieren ist im Grunde der schnellste Weg zur Selbstverwirklichung. Das bedeutet nicht, dass wir absichtlich versuchen zu versagen oder vorzeitig aufzuhören. Es bedeutet, dass wir danach streben, an unsere Grenzen zu kommen und sie so weit wie möglich auszudehnen. Wenn wir uns zu diesem Ziel hinbewegen, tun wir stets unser Bestes; dann arbeiten wir immer daran, ausgezeichnete Leistungen zu bringen, und erreichen unser Ziel jedes Mal – denn unser Ziel war es, zu scheitern. Jedes Mal, wenn du an diesen natürlichen Punkt des Scheiterns gelangst, kannst du dich erfolgreich fühlen.
Du brauchst nicht an dich zu glauben. Du brauchst nicht positiv zu denken. Du brauchst nicht zu warten, bis du keine Angst mehr hast oder nicht mehr leidest, um etwas zu unternehmen; ebenso wenig musst du dafür den Schmerz und die Angst ausschalten. Solche gängigen Vorstellungen und Ausdrucksweisen sind nicht Teil meiner Geschichte, und sie müssen auch nicht Teil deiner Geschichte sein. Du kannst also überhaupt nicht an dich selbst glauben, Angst haben, Schmerz empfinden, alles hassen und trotzdem irgendwie den nächsten Schritt tun. Du kannst all diese »Nein!«-Schreie hören und trotzdem dem liebevollen »Ja«-Flüstern folgen.
Ich persönlich arbeite daran, dass Schmerz, Angst und ich gute Freunde werden. Denn wenn Schmerz und Angst kein Problem mehr wären, welche Probleme hätte ich dann überhaupt noch? Wenn man mit Schmerz und Angst befreundet ist, ist man frei.*
DIE FÄHIGKEIT, WIEDER AUFZUSTEHEN und weiterzumachen, auch wenn wir das Gefühl haben, dass uns nichts mehr bleibt, ist nicht nur eine Frage, wie wir uns entscheiden. Auf diese leise innere Stimme zu hören, die unsere Lebensausrichtung festlegen will, ist eine große – eine äußerst wichtige – Fähigkeit. Und die Forschung zeigt deutlich, dass wir Bedingungen in unserem Leben schaffen können, die unsere inneren Ressourcen stärken und die Fähigkeit fördern, uns immer wieder aufzurappeln.
GEMEINSCHAFT
Zeig mir, mit wem du deine Zeit verbringst, und ich zeige dir, wer du bist.
IDENTITÄT
Wo dein Kopf hingeht, dorthin folgt auch der Rest von dir.
GEFÜHLSWAHRNEHMUNG
Erkenne, was du fühlst, wann immer du es fühlst. Fass es in Worte.
EMOTIONALE INTELLIGENZ
Halte inne. Löse die Verschmelzung auf. Sei neugierig. Öffne die Tür zu neuen Entscheidungsmöglichkeiten.
SELBSTGESPRÄCHE
Sprich mit dir selbst nur so, wie du mit einem anderen Menschen sprechen würdest – einem anderen Menschen, der grundsätzlich Respekt und Mitgefühl verdient hat.
SPIRITUALITÄT
Entwickle ein reiches, sinnstiftendes Innenleben. Tritt in Verbindung mit dem, was täglich wichtig ist.
GIB DEINER ERFAHRUNG EINEN SINN
Such nach den Lehren. Nimm Krisen zum Anlass, tiefer zu graben und stärker zu werden. Lass dich von deinen Schwierigkeiten dazu inspirieren, anderen zu helfen.
EINFALLSREICHTUM
Schwere Zeiten sind ein Aufruf, über den Tellerrand zu blicken und kreativ zu werden; vgl. die Übung »Innere Ressourcen heranziehen« auf Seite 112, die dir dabei hilft.
NATÜRLICH GEHÖREN SOZIALE und materielle Privilegien mit zu den besten Indikatoren für Resilienz, aber sie sind bei Weitem nicht die einzigen.
Wir alle werden verletzt und wir alle werden wieder heil. Dazu wurden wir geboren. Resilienz ist eine allen lebenden Organismen innewohnende Eigenschaft. Wir können die Erfahrung körperlichen Trainings als direkte Entsprechung ansehen. Wir trainieren mit der Absicht, stärker und gelenkiger zu werden. Sport und Gymnastik bewirken jedoch nichts von beidem – nicht direkt. Unser Work-out schadet uns zunächst sogar: Es verursacht winzige Risse in den Muskeln. Stärker werden wir erst während der Ruhe und Erholung nach dem Training. Die Absicht hinter einem wirklich guten Work-out ist also, dich gerade so viel zu verletzen, dass du es bewältigen kannst, sodass du stärker und gelenkiger als vorher aus deiner Erholungsphase hervorgehst. Mit dem Leben verhält es sich genauso. Und auch mit unserem Herzen – allerdings mit dem Unterschied, dass wir nicht nach einem emotionalen Work-out zu suchen brauchen. Solche Work-outs kommen an unsere Türschwelle, wir brauchen noch nicht mal darum zu bitten. Das Leben bietet endlose Möglichkeiten, uns blaue Flecken zu holen und stärker zu werden, indem wir uns von all dem erholen. Und aus so einer Aktivität entsteht etwas sehr Wertvolles: Selbstvertrauen. Da wir immer wieder erleben, wie wir verletzt werden und geschickt damit umgehen – und dadurch beständig stärker und emotional flexibler werden –, verringert sich unsere Angst vor dem Leben. Unsere defensiven Teile erhalten zunehmend die Botschaft, dass wir stärker und fähiger sind als in unserer Kindheit – jener Zeit, als unsere zentralen Abwehrmechanismen konditioniert und in uns verankert – verdrahtet – wurden. Wir bleiben dran. Werden immer mutiger. Sogar unerhört mutig. Und das ist nur ein flüchtiger Blick auf das, was uns allen möglich ist.
Wenn wir die Aspekte der Resilienz entwickeln, die ich oben aufgezählt habe, läuft das sehr oft auf etwas hinaus, zu dem wir Ja sagen. Es liegt bei uns, mit wem wir zusammen sind. Wie wir mit uns selbst sprechen, bestimmt oft der Autopilot – doch wir können wählen, ob wir den Autopiloten ausschalten und lieber das innere Gespräch nutzen wollen. Unser Innenleben zu entwickeln, beispielsweise durch Meditation, Kontemplation, Lektüre und Therapie, kann bedeuten, dass wir einige Gewohnheiten und Routineabläufe ändern müssen, um Raum für Tieferes zu schaffen. Damit wir Ja dazu sagen können, unsere Ressourcen zu vertiefen und schneller wieder aufzustehen, müssen wir vielleicht etwas tun, wovor viele von uns mehr Panik haben als vor dem Scheitern: Nein sagen.
*Fürs Protokoll: Ich meine »frei« in dem Sinne, wie MALCOLM X davon gesprochen hat, frei zu werden, obwohl er noch im Gefängnis war: geistig, emotional und spirituell frei.